10 Fragen an: eine blinde Person aus Dresden

Wahrscheinlich hat sich jeder von uns schon gefragt, wie sehbehinderte Menschen im Alltag zurechtkommen und wie genau sich ihr Alltag von unserem unterscheidet. Wie gehen sie einkaufen? Was machen sie in ihrer Freizeit? Wie orientieren sie sich in einer Großstadt wie Dresden?
Wir haben Sedef, eine 30 Jahre alte Psychologin aus Dresden, getroffen und ihr 10 Fragen zu ihrem Alltag als blinde Person in Dresden gestellt.

„Blinde und allgemein behinderte Menschen können genauso ein erfülltes Leben führen und glücklich sein, wie andere auch.“

Sedef, 30 Jahre alt, seit ihrem 18. Lebensjahr blind

Sedef wurde sehend geboren und war ein „ganz normales Mädchen“, bis ihre Sehleistung aufgrund einer fortschreitenden Augenerkrankung nach und nach schlechter wurde. Seit sie 18 Jahre alt ist, sieht sie nur noch schwache Umrisse und wenn sie unterwegs ist, nutzt sie meistens ihren Blindenstock. Im letzten Herbst hat sie ihr Masterstudium in Klinischer Psychologie an der TU Dresden abgeschlossen und arbeitet inzwischen als Psychologin bei einem Bildungsträger, wo sie Migranten bei der Arbeitssuche unterstützt. Parallel dazu macht sie eine Ausbildung zur Psychologischen Psychotherapeutin.
Wir wollten von Sedef wissen, was ihre Sehbeeinträchtigung im Alltag für sie bedeutet.

1. Welche Hilfsmittel sind für dich als sehbehinderte Person im Alltag unverzichtbar?

Für Sedef ist ihr iPhone eine große Hilfe.

Unverzichtbar ist für mich vor allem mein iPhone. Unter anderem ist da auch eine Sprachausgabe installiert – das ist ein Programm, das mir den Bildschirm vorliest.

Ein weiteres unverzichtbares Hilfsmittel ist eine sprechende Küchenwaage und unsere Alexa (ein sprachbasierter Cloudservice der Firma Amazon, Anm. d. Red.). Beides brauche ich zum Beispiel, wenn ich morgens mit unserem Siebträger Kaffee koche oder allgemein beim Kochen.

Außerdem habe ich meinen Stock immer dabei, denn damit kann ich mich vor allem in unbekannten Gegenden sehr gut orientieren und spüre zum Beispiel, wann ein Hindernis vor mir ist oder wenn sich die Bodenbeschaffenheit ändert. Manchmal gibt es auch Hinweise auf dem Boden, zum Beispiel an Haltestellen, die ich mit dem Stock sozusagen spüren und mich dann besser orientieren kann.

2. Was sind deine Hobbies?

Ich habe sehr, sehr viele Hobbies! Ich treffe mich häufig mit Freunden in Cafés, Bars oder Dönerbuden und dort unterhalten wir uns dann über alles Mögliche. Mit einer Freundin zum Beispiel fahre ich sehr gerne Tandem – das ist etwas, was ich wirklich gerne mache! Ich sitze dann natürlich hinten und sie sitzt vorne und dann machen wir Touren durch Dresden oder an der Elbe oder so. Außerdem nehme ich Gesangsunterricht, das macht mir Spaß und entspannt mich. Dann lese ich auch sehr gerne und höre mir Hörbücher an. Ach ja, ich koche auch sehr oft, aber nicht so gern nach Rezept, sondern eher nach Intuition. Und ich reise sehr gerne und schaue mir Städte an oder fremde Länder.

3. Warum hast du eigentlich den Beruf als Psychologin gewählt und wie reagieren deine Klienten auf die Sehbehinderung?

Eigentlich wollte ich Juristin werden. Ich habe dann bei einem Bekannten ein Praktikum in einer Kanzlei gemacht und irgendwie haben sich mir dann immer mehr Menschen anvertraut, sogar fremde Menschen auf der Straße, die ich wirklich nicht kannte. Und da habe ich gedacht, vielleicht wäre doch der Beruf der Psychologin für mich geeignet. Dann habe ich mich damit auseinandergesetzt, habe psychologische Studien und Bücher gelesen und gemerkt, dass mir das irgendwie liegt. Und dann habe ich es einfach versucht mit dem Studium und es hat geklappt.

Der Umgang mit den Klienten ist sehr entspannt! Ich habe nie eine negative Resonanz bekommen, ganz im Gegenteil: Die Leute fühlen sich sehr wohl und kommen gerne zu mir in die Beratungen. Viele haben mir auch schon gesagt, dass sie es gut finden, dass sie sich wegen meiner Sehbehinderung keine Sorgen über ihr Aussehen machen müssen. (lacht)

4. Welche Erfahrung hast du mit der Hilfsbereitschaft deiner Mitmenschen gemacht und was würdest du dir von deinen Mitmenschen im Umgang mit deiner Sehbehinderung wünschen?

Die Leute sind echt hilfsbereit! Ich kann immer fragen, wenn ich wegen meiner Sehbehinderung doch mal irgendwo nicht weiterkomme, und mir wird immer geholfen. Oder wenn ich mal im Restaurant bin und es gibt keine Onlinespeisekarte, dann sage ich dem Personal einfach, was ich möchte, und sie beraten mich dann auch. Also ich habe wirklich nie eine Ablehnung bekommen oder mitbekommen. Außer einmal in der Altmarktgalerie, da war mal ein Passant, der hat mich angesprochen und gemeint, „Hey, du simulierst doch!“. Aber da bin ich dann auch sehr wütend geworden und habe ihm meine Meinung gesagt. Aber das war echt nur ein einziges Mal, dass sowas passiert ist.

Es passiert ab und zu, dass mein Gegenüber mich sieht und sich dann vorstellt, wie es für ihn oder sie wäre, blind zu sein. Und dann bekomme ich manchmal wirklich verletzende Aussagen zu hören, wie zum Beispiel „Oh Gott, wenn ich blind werden würde, dann würde ich mich umbringen!“. So etwas geht echt gar nicht! Blinde und allgemein behinderte Menschen können genauso ein erfülltes Leben führen und glücklich sein, wie jeder andere auch. Ich würde mir wünschen, dass das endlich in den Köpfen der Menschen ankommt.

5. Wie kannst du eigentlich ein Handy und einen Laptop nutzen, obwohl du den Bildschirm nicht siehst?

Ich habe ein iPhone und einen Laptop. Auf beiden Geräten ist eine Sprachausgabe installiert, also ein Bildschirmvorleseprogramm, das mir dann ansagt, was auf dem Bildschirm gezeigt wird. Damit kann ich alles benutzen – mein E-Mail-Programm, Google, Browser, Apps und so weiter. Es gibt auch manche Apps, die mit der Sprachausgabe nicht so gut bedienbar sind. Dann muss ich einfach mehr Zeit investieren, um die zu benutzen, aber das geht auch.

6. Du bist wahrscheinlich sehr oft mit den öffentlichen Verkehrsmitteln unterwegs. Woher weißt du denn, wann du an der Haltestelle stehst und in welche Straßenbahn du einsteigen musst?

Die Fernbedienung erleichtert blinden Personen die Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel.

Ich orientiere mich mit dem Stock an den Markierungen am Boden und an den markanten gelben Schildern und Haltestellenhäuschen, dadurch finde die Haltestellen meistens ohne Probleme. Wenn nicht, dann frage ich einfach.

Außerdem habe ich noch eine kleine Fernbedienung, dort sind verschiedene Knöpfe. Wenn ich dort auf den entsprechenden Knopf drücke, sagt eine Stimme aus dem Lautsprecher, welche Straßenbahn gerade kommt. Also zum Beispiel „Linie 1, Leutewitz“. Das habt ihr vielleicht auch schonmal gehört. Dann weiß ich, ob das die Straßenbahn ist, in die ich einsteigen muss.

7. Wie gehst du eigentlich Lebensmittel einkaufen, ohne zu sehen, was auf den Packungen steht? Und wie unterscheidest du dann zuhause die abgepackten Lebensmittel, Dosen, Getränkeflaschen etc. voneinander?

Ich bestelle meine Einkäufe über die Lieferapp von Rewe, die kann ich ganz normal mit dem Handy und der Sprachausgabe bedienen. Wenn ich trotzdem mal in den Supermarkt gehen möchte, dann frage ich dort beim Personal und bekomme eine Einkaufshilfe. Der sage ich dann, was ich möchte, und die packt die Sachen für mich in den Wagen und hilft mir beim Einkaufen.

Zuhause habe ich dann die CodeCheck-App. Damit scanne ich die Verpackung und weiß dann, was das ist. Bei manchen Produkten funktioniert das nicht, dann gibt es aber noch andere Apps, die ich nutzen kann. Und manchmal koste ich das Lebensmittel auch einfach oder rieche daran.

8. Und wie entscheidest du, welches Outfit du anziehen oder welche Kleidung du kaufen sollst?

Wie entscheiden blinde Personen, welche Kleidung sie kaufen sollen?

Ich habe ja früher gesehen, darum kann ich mir noch ungefähr vorstellen, was gut aussieht. Irgendwann war ich aber unsicher, weil sich die Mode ja mit der Zeit auch verändert, darum habe ich eine Stilberaterin kontaktiert. Die ist dann zu mir nach Hause gekommen und wir haben gemeinsam meinen Kleiderschrank ausgeräumt und direkt passende Outfits zusammengestellt. Die Konstellationen habe ich dann direkt auf den Kleiderbügel gehängt. Ich weiß ja, welche Kleidung ich habe und wie sich das anfühlt, und wenn ich die Wäsche wasche, hänge ich das dann auch immer gleich so zurück. Beim Kleidungskauf hole ich mir meistens Unterstützung von Freunden oder der Familie und frage dann, wie das aussieht und ob mir das steht.

9. Würdest du sagen, dass Dresden blindenfreundlich ist, und was könnte man dahingehend noch verbessern?

Was Dresden wirklich auszeichnet, ist das Straßenbahnnetz. Und auch, dass die Straßenbahnen mit der Fernbedienung angesteuert werden können, habe ich in anderen Städten so noch nicht erlebt. Ich glaube, vieles liegt aber auch an einem selbst. Ich bin jemand, der sehr offen ist und wenn er Hilfe braucht, einfach fragt.

Was mich in Dresden aber wirklich stört, sind die Scooter und Fahrräder, die oft mitten auf den Gehwegen stehen gelassen werden. Das ist echt nervig, weil ich die ja nicht sehe. Einmal bin ich böse über so einen Roller gestolpert. Es wäre toll, wenn die Menschen da mehr Rücksicht nehmen würden.

MOBIbikes oder E-Scooter, die einfach auf den gehwegen zurückgelassen werden, stellen besonders für blinde Menschen eine große Gefahr dar.

10. Gab es auch schonmal Situationen, wo du durch deine Sehbehinderung auf richtige Schwierigkeiten gestoßen bist? Wie bist du damit umgegangen?

Da fällt mir mein Trip nach Pilsen ein. Ich wollte da auf ein Evanescencekonzert – aus nostalgischen Gründen – und mich mit einer Freundin treffen. Aber ihr Zug kam zu spät, das heißt, ich war dann erstmal allein in Tschechien. Die Passanten waren echt lieb und hilfsbereit, aber ich kannte ja die Sprache nicht, darum haben wir uns dann mit Händen und Füßen verständigt. Und das ging dann auch irgendwie und am Ende habe ich es dann mithilfe eines Passanten, der seine deutschsprechende Tochter angerufen hat, geschafft, Geld abzuheben und sogar den Weg zum Hostel zu finden. Wenn ich irgendwo nicht weiterkomme, dann gehe ich einfach auf Leute zu. Das hat bisher immer funktioniert.

Vielen Dank an Sedef für ihre Offenheit! Was für ein schönes Beispiel dafür, dass man auch mit Behinderung ein aktives und glückliches Leben führen kann. Wir haben großen Respekt vor allen Betroffenen und wünschen uns, dass ihre Inklusion in der Gesellschaft noch mehr Aufmerksamkeit erfährt und immer mehr zur Normalität wird.

Kommentiert gern, welche Erfahrungen ihr im Alltag mit diesem Thema gemacht habt 😊

Das könnte dich auch interessieren:


Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.