Lesen und Schreiben in Dresden – Was tun, wenn man es nicht so richtig kann?

Schreiben und Lesen spielt in unserem Leben eine sehr große Rolle. Wir leben mit diesen erlernten Fähigkeiten, als wären sie uns angeboren. Buchstaben sind überall, so dass wir ständig und überall lesen: im Supermarkt kontrollieren wir die Produkte auf ihre Inhaltsstoffe und ob sie für unsere Ernährung geeignet sind, wir füllen Formulare aus für verschiedene Ämter, um eine bestimmte Leistung zu erhalten, wir lesen Bücher in unserer Freizeit, um uns zu entspannen, wir lesen in der Tageszeitung oder im Internet die Nachrichten, wir beantworten emails, wir lesen, um uns weiterzubilden, …

Die Liste könnte noch um einiges verlängert werden! Und nun stell dir vor, du könntest es NICHT. Du könntest nichts anfangen mit dieser Welt aus Buchstaben, da du sie nicht verstehst. Oder du kannst Buchstaben zwar erkennen, aber zu einem Wort zusammengefügt, werden die Buchstaben zu einer undurchdringlichen Masse. Dir als Leser dieses Bloges, erscheint es unmöglich, diese Techniken in einem Land, in dem seit 1919 die Weimaer Verfassung eine Schulpflicht vorschreibt, nicht zu beherrschen. Und dennoch, es ist möglich!

A – B – C – D – E – F – G – H – I …

Das Alphabet aufsagen, kann fast jeder. In dem Namen eines Buchstabens aber einen Lautwert erkennen und wissen, wie sich dieser eine Laut mit anderen Lauten zusammenfügt, da treten weitaus größere Probleme auf, als sich so mancher vorstellen kann. Weißt du, was ein HA – U – EN – DE ist? Ein HUND – zusammengesetzt aus lauter Buchstabennamen des Alphabets.

In Deutschland können etwa 12% der erwachsenen Bevölkerung nicht ausreichend lesen und schreiben – das sind 6,2 Millionen Menschen, die am gesellschaftlichen und beruflichen Leben nicht in vollem Umfang teilhaben können, sind doch ausreichende Kenntnisse der Schriftsprache eine wesentliche Vorraussetzung dafür in unserer Wissens- und Informationsgesellschaft. Dies betrifft natürlich auch Menschen mit Migrationshintergrund, aber eben auch und – ebenso in hohen Zahlen – Menschen ohne Migrationshintergrund.

Deutschlandweit gibt es Angebote und Beratungsstellen, die dieser Problematik begegnen wollen – so auch in Dresden. Leider erweist es sich oft als sehr schwierig, Analphabeten bzw. Menschen mit geringer Literalität in Hilfsangeboten unterzubekommen, vor allem aus einem Grund: über Jahre hinweg haben Menschen mit Lese- und Schreibschwierigkeiten gelernt, diese zu verstecken. Viele, oftmals sehr bemerkenswerte Strategien helfen, die Schwäche zu verstecken: „Ich habe heute meine Brille vergessen“ oder „ich merke mir deine Telefonnummer“, könnten Hinweise sein. Aber Achtung – gute Gedächtnisleistung und Vergesslichkeit ist nicht per se ein Anzeichen für Lese- und Schreibschwierigkeiten! Für die Betroffenen aber auch für deren Angehörige ist es oft beschämend, sich diesen „Mangel“ mit samt seinen Folgen einzugestehen und Hilfe zu suchen. Die Scham und die Angst, entlarvt zu werden, ist größer, als der Nutzen, den die Betroffenen darin sehen, Lesen und Schreiben zu lernen. Oft haben sie sich an ein Leben ohne Schrift und Bücher gewöhnt, sich darin eingerichtet, bis ein plötzliches Lebensereignis die Stabilität ins Wanken bringt. Die Welt ist aus den Fugen. Oft ist es erst an dieser Stelle möglich, Analphabeten zu erreichen, da sie erst jetzt ihr Problem als solches akzeptieren und etwas in ihrem Leben verändern wollen.

Zu Besuch bei der Alpha-Arbeit 1 (c) A.Lungershausen
Zu Besuch in der Alpha-Arbeit 1 © A.Lungershausen

Analphabetismus und geringe Literalität

Wenn man Analphabetismus wörtlich übersetzt, bedeutet es, des Alphabetes nicht mächtig zu sein. Diesen Analphabetismus haben wir in Deutschland seit der Einführung der Schulpflicht fast nicht mehr. Heutiger Analphabetismus bedeutet, die Schriftsprache nicht ausreichend zu beherrschen. Solche Menschen haben die Schule zwar besucht, haben aber keine ausreichenden Kenntnisse und Fertigkeiten in Bezug auf Lesen und Schreiben erworben. Unter Fachleuten der Alphabetisierung werden hinsichtlich der Literalität (Schriftsprachkompetenz) der Betroffenen verschiedene Kompetenz- oder Niveaustufen (auch Alpha-Levels) unterschieden. Betroffene des Levels 1 haben extreme Schwierigkeiten beim Lesen und Schreiben, oft können nur einzelne Buchstaben, kaum jedoch Wörter gelesen oder geschrieben werden. Betroffene, die dem Level 4 zugeordnet werden, sind in der Lage, Texte sinnerfassend zu lesen, wenn der Wortschatz dieser Texte ihrem alltäglichem Wortschatz entspricht. Sie haben oftmals große Probleme in der Rechtschreibung. Wer hinsichtlich dieser Niveaustufen das Level 4 unterschreitet, gilt als Funktionaler Analphabet. Funktionaler Analphabetismus beschreibt das Phänomen, dass Menschen die Funktion von Schrift nur sehr eingeschränkt nutzen können.

Eine geistige Behinderung ist Funktionaler Analphabetismus nicht. Die allgemeine Erklärung muss viemehr lauten, dass Betroffene Lesen und Schreiben nicht so gelernt haben, dass sie es sicher anwenden können. Denn, warum das letztlich so gekommen ist, ist sehr individuell. Jeder Analphabet hat eine andere Geschichte. Die Schwierigkeiten wurden in der Schule sicher wahrgenommen, aber es gab kaum genug Offenheit und Möglichkeiten, sich der Thematik zu nähern. Oftmals wurden diese auffälligen Schüler dann einfach bis zum Schulabschluß mitgeschleift, ihre Leistungen in anderen Fächern waren gut und wogen das Defizit irgendwie aus. Doch eben nicht für alle Zeit.

Heute werden bereits in der Grundschule Kinder auf Lese-Rechtschreib-Schwäche getestet und auf spezielle Schulen geschickt, wo sie intensiv zur Problematik gefördert werden sollen. Kein Garant für eine hohe Schriftsprachkompetenz, aber eine Möglichkeit, Lese-Rechtschreibproblemen zu begegnen.

Auch wenn die Probleme einer Lese-Rechtschreib-Schwäche im schulischen Kontext anfangs oft nur in diesem Bereich liegen, greifen sie doch in viele andere Fachbereiche über. Wer einen Text nicht sinnerfassend erschließen kann, bleibt bildungstechnisch auf der Strecke. So gehen mit einem niedrigen Level der Schriftsprachkompetenz oftmals auch Defizite in der Grundbildung einher. Alphabetisierungskurse sind demnach zumeist so offen, auch auf Defizite im Bereich der Grundbildung einzugehen.

Zu Besuch in der Alphaarbeit 2 © A. Lungershausen
Zu Besuch in der Alpha-Arbeit 2 © A. Lungershausen

Wege aus dem Analphabetismus

Oftmals ist es sehr schwer, Analphabeten überhaupt zu erreichen. Ein Analphabet liest keine Werbung in der Straßenbahn oder im Internet. Analphabeten haben mittels vielfältiger Strategien gelernt, ihr Defizit zu verschleiern. Selten erkennen sie ihr Defizit als solches an und bemühen sich aus eigener Intention heraus, um die Anbindung in geeigneten Kursen. Auch Angehörige und Vertraute von Menschen mit Schriftsprachschwierigkeiten fühlen sich beschämt. Die Thematik an sich wurde bis heute immer nur randständig als Thema öffentlich und hat der Scham keinen Abruch getan.

Die wenigsten Betroffenen werden über das Arbeitsamt in Kurse zum Lesen- und Schreibenlernen vermittelt. Die wenigsten Arbeitsamt-Vermittler haben Kenntnisse in diesem Bereich, um Betroffene überhaupt zu erkennen. Grund genug also, um diese Thematik so weit wie möglich zu verbreiten, damit viele Menschen mit Schriftsprachschwierigkeiten über private Beziehungen erreicht werden. Damit die Freundin, die eine Betroffene zu einer Beratungsstelle begleitet, bald gängige Praxis wird.

Schriftsprachkompetenz wird durch die Digitalisierung noch mehr an Bedeutung gewinnen. Eine Erneuerung jagt die nächste. Bald zahlen wir nicht mehr mit Bargeld. Unsere Daten sind nur noch online hinterlegt. Wer da nicht lesen kann, landet sicher auf dem Abstellgleis. Ist kein Teil mehr dieser Gesellschaft, von der  Teilhabe an wichtigen gesellschaftlichen Aktivitäten ausgegrenzt.

Also, liebe Menschen, die ihr jemanden kennt, der Hilfe benötigt! Tragt den Betroffenen die Informationen zu, die es braucht, damit sie bald in geeigneten Kursen Lesen und Schreiben lernen und sich auch sonst weiterbilden können!

Bildungs- und Beratungsangebote in Sachsen und Dresden

Koordinierungsstelle für Alphabetisierung im Freistaat Sachsen

Informationen und Beratung zu Lernangeboten und Weiterbildungen, Durchführung von Fachveranstaltungen u.v.m. für Akteure, Lerner und Interessierte

Beratung-Information-Unterstützung: Tel. 08003377100 (kostenlos aus dem deutschen Festnetz) | Email an: info@koalpha.de | Website

(neben Betroffenen und deren Angehörigen werden auch Ansprechpartner in allen Lebensbereichen sowie Bildungsträger beraten)

Programme der Volkshochschulen in Sachsen

Informiert euch hier.

Projekt BasisKompPlus

Bei diesem Projekt geht es darum, die Basiskompetenzen am Arbeitsplatz zu stärken. Informiert euch hier.

ABCD-Lerncafé

im Mehrgenerationenhaus Dresden-Friedrichstadt. riesa efau | Tel. 0351-8660211| Email: mhg@riesa-efau.de | Website

wöchentlich montags (nicht in den Ferien) | 17-19 Uhr | ab 18 Jahren | kostenfrei

Projekt mittendrin

Eine Zusammenarbeit der Vokshochschule Dresden e.V.  mit dem Fanprojekt e.V. unter wissenschaftlicher Begleitung des Forschungsinstitutes der Evangelischen  Hochschule Dresden. Über Fußball als Motivationsfaktor sollen neue Zielgruppen und Lernorte für Alphabetisierung erschlossen werden.

Projekt mittendrin 2
Projekt mittendrin

Schnupperangebot Fußball + | wöchentlich donnerstags bis 19.12. (Weiterführung im neuen Jahr) | 17-20 Uhr | Treff am Fanshop des Dynamo-Stadions | ohne Anmeldung und kostenfrei | Facebook-Seite | Website

Wir schrieben bereits über das Projekt mittendrin in unserem Artikel über Fußballvereine in Dresden. Lest hier.

Egal, bei welchem Angebot oder bei welcher Beratungsstelle ihr euch meldet, ihr werdet in das für euch passende Angebot weitervermittelt. Wichtig ist nur, dass ihr euch traut, den Weg zu beginnen. Kennt ihr Menschen, bei denen ihr schon manchmal dachtet, dass es sein könnte, dass diese nicht richtig schreiben können? Wie seit ihr in der Vergangenheit mit dieser Thematik umgegangen, habt ihr Lust jetzt etwas zu verändern? Lasst uns gern einen Kommentar da!

Und wen’s noch mehr interessiert: Das Zentrum für Forschung, Weiterbildung und Beratung an der Evangelischen Hochschule Dresden gGmbH hat eine Broschüre herausgebracht: Menschen, die nicht ausreichend lesen und schreiben können. Handreichung. Kann über die Evangelische Hochschule Dresden heruntergeladen werden.

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